Gefallene Engel und ramponierte Pilze
Rüsselsheimer Echo, 24. Februar 2009, www.echo-online.de
Fastnacht: In der DRK-Wache werden die dunklen Seiten des bunten Treibens offenbar – Einsätze wie nie
FLÖRSHEIM. Es sollte wohl eine himmlische Fastnacht werden, doch am Ende war es nur ein höllischer Absturz. Die weißen Engelsflügel, mit denen sich die junge Frau am Sonntag ins närrische Getümmel gestürzt hatte, kleben zerdrückt an ihrer Jacke. Ihr Freund hält die Drahtkonstruktion des Heiligenscheins in der Hand, der mit zu dem Kostüm gehörte. In der anderen Hand eine Flasche Wasser. Doch Wasser scheint an diesem Tag nicht das bevorzugte Getränk der Jugendlichen gewesen sein. Mit einer Alkoholvergiftung liegt die junge Frau auf der Bahre in der Rettungswache des DRK.
Hier, nur ein paar hundert Meter von dem offiziellen Zugweg entfernt, werden die dunklen Seiten des bunten Treibens offenbar. Wer hier eingeliefert wird, für den ist Fastnacht erst einmal vorbei. Gebrochene Nasen, demolierte Knie, Schürf- und Platzwunden und immer wieder zu viel Alkohol. Ein gutes Dutzend akute Alkoholvergiftungen hat Bereitschaftsleiterin Theresa Kuhlmann schon auf ihrem Zettel notiert. So viele wie noch nie. Jeder Patient bekommt eine Nummer auf dem Handrücken notiert, damit es zu keinen Verwechslungen kommt. Der Engel ist Patient Nummer 29 und er wird nicht der letzte sein. Gegen 22 Uhr, als das DRK die Wache dicht macht, stehen 32 Patienten auf der Liste. Zum Vergleich: Im Jahr 2008 wurden in der DRK-Wache genau zwei Patienten behandelt. Als Bereitschaftsführer Franz-Josef Eckert die Meldungen von den deutlich gestiegenen Einsätzen der Rettungsdienste an Weiberfastnacht in den rheinischen Karnevalshochburgen vernahm, hatte er auch für den Sonntag in Flörsheim eine dunkle Vorahnung. Mit einer solchen Entwicklung hat aber auch er nicht gerechnet.
Insgesamt hat das DRK am Sonntag 79 Einsätze verzeichnet. 18 Patienten mussten ins Krankenhaus gebracht werden, ein gutes Dutzend wurde wegen Alkoholvergiftung behandelt. Und jede einzelne Kategorie ein neuer, trauriger Rekord. Woran das liegt? „Ich habe keine Ahnung. Ich kann mir das nicht erklären“, bekennt Eckert. Auch der Hofheimer Arzt Andreas Reimer, der seit 15 Jahren am Fastnachtssonntag das Flörsheimer DRK unterstützt, kann nur die Fakten aufzählen. Immer mehr Alkoholvergiftungen, immer mehr jugendliche Patienten. Eine Erklärung hat auch er nicht.
Die Versorgung der volltrunkenen Jugendlichen ist längst Routine. Blutdruck messen, Kreislauf kontrollieren, in vielen Fällen eine Infusion, damit der Blutzuckerspiegel wieder in Ordnung kommt und dann ein paar Stunden auf die Liege. So lange, bis die Eltern ihre Schützlinge abholen. Wenn keine Verwandten greifbar sind oder die Patienten so spät gebracht werden, dass das DRK keine stundenlange Überwachung mehr gewährleisten kann, geht es ins Krankenhaus. Rüsselsheim, Wiesbaden, Hofheim, Bad Soden – die Rettungswagen fahren weite Wege, um ein freies Bett zu finden.
Der Umzug ist längst vorbei, doch die Party rund um die Galluskirche tobt weiter. Rund 500 Menschen feiern hier. Am nächsten Morgen wird Wilhelm Bachmann kopfschüttelnd die Reste des Gelages vom Kirchhof kehren. „Die haben sich sogar mit Strohrum betrunken“, sagt er und zeigt auf die leere Flasche. Maximale Wirkung für all die, denen es um den maximalen Rausch geht.
Ein weiteres Mädchen wird eingeliefert. Wieder zu viel Alkohol, wieder die gleiche Prozedur. Eine Freundin muss ebenfalls behandelt werden. Sie wollte die Torkelnde stützen, kam selbst ins Straucheln und hat sich dabei eine Schürfwunde zugezogen. Vor der Wache warten die Freundinnen, ebenfalls im Pilzkostüm. „Wodka und Klopfer“ haben sie alle getrunken, erzählen sie. Doch die Freundin hat wohl noch ein paar Jägermeister dabei gehabt, erzählt eines der Mädchen. „Sei doch ruhig“, zischt eine Freundin, Die jungen Frauen fühlen sich offensichtlich unwohl. Die fastnachtliche Freude ist der Ernüchterung gewichen, auch wenn der Alkoholspiegel eine andere Sprache spricht.
Gegen 22 Uhr verlässt der letzte Patient die Wache Richtung Krankenhaus. Um kurz vor 23 Uhr haben auch die DRK-Helfer Feierabend. Das Salzgebäck im ersten Stock bleibt unberührt. „Wir wollten nur noch nach Hause, so ausgebrannt waren wir“, sagt Franz-Josef Eckert.
Er kann sich noch an Zeiten erinnern, als ab 17 Uhr die Fastnacht auch für die Rettungsdienste begann. Als mit dem Ende des Umzuges auch die Einsätze beendet waren. Diese Zeiten scheinen endgültig vorbei zu sein.
Jens Etzelsberger
24.2.2009